Einem Tinnitus, also einem Ohrgeräusch, liegt fast immer eine Hörstörung zugrunde und er entspricht in seinem Mechanismus dem Phantomschmerz nach einer Amputation. Belege für diese Annahme liefern Forscher der University of California in Berkeley, die sie in der Fachzeitschrift "PNAS" veröffentlichten. Ihre Ergebnisse stellen einige der heutigen Therapieansätze für Tinnitus in Frage. Bestimmte Gehirnveränderungen nach einem Gehörverlust sollte man besser unterstützen statt verhindern, so das Team um Shaowen Bao.
Allein in Deutschland hören 3 Mio. Menschen ein ständiges Pfeifen, Klingeln oder Summen, das für andere nicht wahrnehmbar ist. Wie dieses Leiden zustande kommt, konnten die US-Forscher in Rattenversuchen zeigen. Der Verursacher von Tinnitus ist meist eine Hörstörung, etwa infolge lauter Geräusche oder infolge eines Hörsturzes. Im Innenohr werden dabei Haarzellen zerstört, die zuvor jeweils Signale bestimmter Frequenzen an die Hörregion in der Großhirnrinde übermittelt haben. Kommt kein Input mehr aus dem Ohr, nimmt die Hemmung der nun unterbeschäftigten Neuronen ab. Sie werden übererregbar und feuern spontane Impulse ab, die als Tinnitus-Geräusche wahrgenommen werden. Den Forschern zufolge beruhen diese Veränderungen auf der Tendenz des Gehirns, die Aktivitätsrate im System konstant zu halten. "Tinnitus gleicht in dieser Hinsicht dem Phantomglied-Schmerz, den viele Amputierte empfinden", erläutert Bao.
Doch Amputationen lassen das Gehirn nicht untätig. Fehlt etwa ein Finger, so übernehmen teils Regionen, die für dessen Input zuständig waren, Funktionen der Nachbarfinger. Ähnlich wird auch bei Tinnitus die Hörregion umstrukturiert und der Bereich für die Wahrnehmung niederer Frequenzen dehnt sich aus auf Regionen, in denen verlorene hohe Frequenzen verarbeitet wurden. Veränderungen, die man bisher als eine Ursache für Tinnitus hielt und rückgängig zu machen suchte. Die neuen Ergebnisse lassen allerdings schließen, dass sie ein sinnvoller Versuch des Gehirns sein könnten, Tinnitus zu bekämpfen. Bestätigt sich diese Ansicht in weiteren Studien, werde man für künftige Tinnitus-Therapien gezielt diese Umstrukturierung im Gehirn trainieren.
Neuer medikamentöser Therapieansatz im Tiermodell erfolgreich, aber für Menschen zu toxisch
Studienleiter Bao schlägt noch andere Alternativen vor: Künftig könnten auch Medikamente das spontane Abfeuern der Neuronen in der Hörregion unterbinden. Die sonst für diese Hemmung zuständigen, so genannten GABA-erge Neuronen sind bei Tinnitus geschwächt, zeigten die Versuche. Bei der gamma-Aminobuttersäure (GABA) handelt sich um einen Neurotransmitter, der nicht nur in der Hörrinde vorkommt. Die Erhöhung der GABA-Konzentration könnte demnach den Tinnitus lindern. Erste Experimente mit zwei Wirkstoffen, die die Konzentration von GABA steigern, haben den Tinnitus bei Ratten erfolgreich beseitigen können. Die Substanzen sind jedoch sehr giftig, bislang nur im Tierversuch erprobt und kommen deshalb auf keinen Fall für die Therapie beim Menschen in Frage! Die Forscher suchen jetzt nach anderen Wirkstoffen, die eine gezieltere und damit nebenwirkungsärmere Therapie ermöglichen sollen.
Quellen: pressetext.at, aerzteblatt.de Abstract der Studie unter http://www.pnas.org/content/108/36/14974.abstract?sid=1ff83fff-f34a-4cb3-b09c-37da445f6da6